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Miteinander. Essen. Reden. Leben.



Winterzeit ist Vesperkirchenzeit

Überall in unserer Diözese laden Kirchen, Gemeinden, Verbände und Institutionen in den ersten Wochen des neuen Jahrs zur Vesperkirche.

In Horb am Neckar gibt es das Solidaritätsessen seit 15 Jahren. Um zu zeigen, was Tausende Engagierte in diesen Wochen in ganz Württemberg leisten, haben wir den Eröffnungstag in Horb begleitet.











Zahlreiche Menschen bringen sich für andere ein

„Am gemeinsamen Tisch sind alle gleich“, sagt Dieter Oster. Er ist einer von vielen, die sich seit Jahren bei der Horber Vesperkirche engagieren. Unter dem Leitwort „Miteinander. Essen. Reden. Leben.“ laden katholische und evangelische Kirchen sowie das „Zentrum des Zuhörens“ noch bis zum 29. Januar zum Mittagessen ins Horber Steinhaus ein. Hier, in der Hirschgasse, kommen in diesen Tagen Menschen zusammen, die sich sonst nicht treffen würden - schon gar nicht zum Essen.

Audio: Dieter Oster, Ehrenamtlicher



Jeder gibt, was er kann

Wer von Armut betroffen ist, kann sich den Mittagstisch im Restaurant nicht leisten. In der Vesperkirche gibt es Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch ohne Erwartungen.

Wer mehr hat, gibt mehr. Wer nichts hat, zahlt nichts.











Das Essen liefert die katholische Spitalstiftung

In der großen Küche der katholischen Spitalstiftung im Altenpflegeheim „Ita von Toggenburg“, keine 50 Meter Luftlinie von der Vesperkirche entfernt, herrscht seit den frühen Morgenstunden rege Betriebsamkeit. Töpfe klappern, die Kaffeemaschine brodelt. Seit 5 Uhr ist Küchenmeister Heiko Schwabe mit seinem Team im Einsatz, um zusätzlich zu den 280 Essen, die hier werktags für die Horber Alten- und Pflegeheime, die Kindergärten und Kindertagesstätten gekocht werden, noch 100 zusätzliche Vesperkirchen-Portionen zu stemmen.





Es gibt Putengeschnetzeltes mit Reis und Erbsen, für Vegetarier steht ein Gnocchi-Auflauf mit Gemüse auf dem Speiseplan. Zur Vorspeise gibt es Salat oder Rinderkraftbrühe, zum Nachtisch einen Fruchtjoghurt.

Video: Heiko Schwabe, Küchenmeister



Hand in Hand

Während in den großen Töpfen der Spitalküche bereits das Essen köchelt, garniert Shima Hild (58) die frischen Blattsalate mit Paprika und Tomate, Gurke und Radieschen. Marijana Markovic (34) kümmert sich derweil schon um Wurst und Käse fürs Abendbrot auf den Pflegestationen. Die Schnittmaschine summt, das Vakuumiergerät schnauft und Küchenmeister Schwabe ruft: „Wenn die Brühe zu sehr kocht, nehmt ein bisschen Hitze weg.“



Effizient und nachhaltig

Wo möglich, bezieht die Spitalstiftung ihre Lebensmittel regional. Kartoffeln, zum Beispiel, liefere ein Landwirt aus Horb, berichtet Schwabe. Wurst und Fleisch kommen vom Metzger aus der Region, Backwaren vom heimischen Bäcker. „Für uns ist es wichtig, effizient und nachhaltig zu kochen.“ Weil das in Zeiten der Energiekrise noch mehr an Bedeutung gewinnt, schmort in der Soße, die das Team am Morgen angesetzt hat, schon der Braten für den Sonntag mit.





Hier wird genau kalkuliert

Die harte Kalkulation ist kein ideeller Selbstzweck. 14,69 Euro darf die Spitalstiftung jeden Tag pro Bewohner:in abrechnen – nicht fürs Mittagessen, sondern für alle Mahlzeiten am Tag. Zwischenmahlzeiten, Kaffee und Kuchen sowie Getränke inklusive. „Die Energie- und Personalkosten nicht zu vergessen“, rechnet der stellvertretende Spitaldirektor Björn Germann vor. Küchenmeister Schwabe rechnet deshalb auch in der Küche sehr genau.



Ein offenes Angebot

Alles aber lässt sich auch mit bestem Wissen und Gewissen nicht kalkulieren – zum Beispiel, wie viele Menschen zum Essen in die Vesperkirche kommen. Das Angebot ist offen und soll es auch bleiben. Für den ersten Tag hat das Organisationsteam mit etwa 100 Essen geplant, 80 hat Küchenchef Heiko Schwabe mit dem ersten Schwung rüber ins Steinhaus geschickt. Weitere kann er bei Bedarf nachliefern. Knapp 60 Essen werden am ersten Tag ausgegeben, am zweiten sind es schon 80 - Tendenz steigend.





Neuschnee, Eis und andere Widrigkeiten

Ein Grund für den leicht zögerlichen Start ist vermutlich der Winter, der Straßen und Wege über Nacht mit Schnee und Eis überzogen hat.

Und nicht alle sind so wagemutig und gut zu Fuß wie Sophie Winkler, die bei Wind und Wetter die steile Steige von Nordstetten rauf- und runtermarschiert.

Die Freundin, mit der sie sich hier verabredet hatte, hat sie knapp verpasst. Dafür plaudert die lustige Rentnerin munter mit anderen Gästen, erzählt vom Stricken und schwärmt vom Singen im Stiftschor.



Abholen und nach Hause bringen

Bevor sie geht, notiert sich Winkler die Nummer des Fahrdienstes, schmunzelt und sagt: „Vielleicht nutze ich den ja doch, wenn’s mehr wird mit dem Schnee.“

Wer nicht so gut zu Fuß ist oder in einem der 17 Stadtteile wohnt und die Kernstadt nicht erreichen kann, den holt Helfer Stephan Trunte zu Hause ab.

Wer – aus welchen Gründen auch immer – gar nicht ins Steinhaus kommen kann, wird auch gerne mit einem Essen zu Hause beliefert.



Die Vesperkirche tut den Menschen gut

Bunt gemischt sitzen die Menschen an den langen Tafeln im großen Saal des Steinhauses. Man macht sich bekannt, nickt sich zu und wünscht sich einen guten Appetit.

„Viele sagen, dass ihnen die Vesperkirche guttut“, sagt Dekanatsreferentin Nicole Uhde. „Das freut uns sehr.“

15 Jahre gibt es die Vesperkirche in Horb. Finanziert wird das Angebot von Unternehmen, über private Spenden und dank der so genannten Solidaritätsesser:innen.



Ängste und Hürden überwinden

Im Schnitt kommen jedes Jahr 2.000 Leute zum Essen ins Steinhaus, darunter auch Kinder. Während der Covid-Pandemie wurden die Mahlzeiten vor dem Steinhaus zum Mitnehmen ausgegeben.

Für viele Menschen ist die Vesperkirche 2023 also die erste große Veranstaltung nach zwei Jahren Isolation – und Vereinsamung. Ängste und Hürden müssen erst wieder abgebaut werden.

Video: Dr. Ursula Nagel, Ehrenamtliche



Neue Gesichter, ähnliche Schicksale

Und doch mischen sich unter die Stammgäste schon am ersten Tag ein paar neue Gesichter. Eines gehört Andrea. Sie ist 56 Jahre alt und benötigt wegen ihrer Multiplen Sklerose eine Gehhilfe.

Die Diagnose reißt ihr 2001 den Boden unter den Füßen weg. Ihre selbstständige Arbeit kann sie nicht mehr wie zuvor weiterführen, eine Anstellung findet sie nicht und rutscht in die Armut. Oft, erzählt sie, fühle sie sich in und von der Gesellschaft nicht gesehen. „Hier in der Vesperkirche hört man ähnliche Schicksale und merkt, dass man nicht allein ist.“



Eine kleine Oase

Ob jung oder alt, krank oder gesund, gut situiert oder am Existenzminimum lebend, ob geflüchtet, migriert oder Horber Urgewächs: All das ist während der Vesperkirche auf eine gute Art und Weise unsichtbar.

„In einer kleinen Oase wird möglich, was oft unüberwindbar scheint“, sagt Michael Vogelmann, Fachleiter soziale Hilfen der Caritas Schwarzwald-Gäu. „Zusammen essen, zusammen leben im gesamten Querschnitt der Gesellschaft.“

So entsteht in diesen Tagen im Steinhaus eine Atmosphäre, in der Herkunft und Brieftasche keine Rolle spielen.

Video: Nicole Uhde, Dekanatsreferentin



Die harte Realität steht vor der Tafel Schlange

„Anders ist das aber bei der täglich wachsenden Schlange der Menschen vor der Horber Tafel“, sagt Vogelmann. Dort mischt sich nichts. Hier wird jede Art von Armut sichtbar.

Das Jahr 2023 hat kaum angefangen, schon habe sich der Bedarf mehr als verdreifacht. „Seit im neu entstandenen Containerdorf nach und nach Geflüchtete eingezogen sind, haben wir bis zu 40 neue Anträge für Berechtigungskarten - pro Tag.“

Die Energiepreise steigen. Die Lebens(haltungs)kosten steigen. „Allerdings machen die nur sichtbar, wo wir schon lange weggeschaut haben“, sagt Vogelmann. „Sehr viele Menschen leben auf Kante, können nicht am sozialen Leben teilhaben und manche sich nicht einmal eine warme Mahlzeit am Tag leisten.“





Wenn jede:r gibt, was er hat, werden alle satt

Einrichtungen wie die Tafel springen hier bei. „Einrichtungen, die es in einem reichen Land wie Deutschland gar nicht geben sollte!“

Ob der Sozialstaat beim Bürgergeld oder die Tafel durch ihre Zugangsbeschränkungen: „Immer stigmatisieren diese Hilfen auch ein Stück weit und haben am Ende die Systematik zu kategorisieren, ob jemand die Hilfe ‚verdient hat‘“, so Vogelmann.

Das passiert in der Vesperkirche nicht. Hier ist die Welt zwölf Tage lang wie sie sein sollte: „Jede:r gibt, was er hat, dann werden alle satt.“

Satt ist heute auch Peter (Audio). Er ist arbeitslos und hat monatlich 900 Euro zur Verfügung.





Vom Sinn der guten Arbeit

Nach dem Kochen ist vor dem Kochen. Deshalb wirbelt in der Spülküche der Spitalstiftung die 42-jährige Susanne Sinn. Auch wenn’s in Zeiten wie diesen ganz schön stressig werden kann - Sinn liebt, was sie tut. Auch und gerade zur Vesperkirchenzeit.

„Ich habe 2016 mit unterstützender Beschäftigung ein Praktikum gemacht und bin übernommen worden.“ Vier Jahre, erzählt sie, sei sie zuvor arbeitslos gewesen. Sinn hat eine Lernbehinderung, der Grad ihres Handicaps liege bei 50 Prozent. „Eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung ist nichts für mich“, sagt Sinn bestimmt und schiebt mit Schwung einen vollbepackten Spülkorb in die Maschine.

Die Zeit der Arbeitslosigkeit sei schlimm gewesen. Die Angst, dass das Geld nicht reicht. Das Bittenmüssen. Und das Gefühl, immer auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein. „Das will ich nie wieder.“

Die Horber Vesperkirche

Öffnungszeiten: 18. bis 29. Januar 2023 11.30 bis 14 Uhr

Fahrdienst: 01 75 / 2  89  31  34 Spendenkonto: Horber Vesperkirche, Katholisches Dekanat Freudenstadt IBAN: DE04642910100024570001

BIC: GENODES1FDS

Ein Beitrag von Marike Schneck, Constanze Stark und Luisa Weinig

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